Sprachwandel und Geschlecht – Zu einigen Irrtümern in der Genderdebatte
Damaris Nübling, JGU Mainz
Damaris Nübling, JGU Mainz. 2021.
https://www.sprache-und-gendern.de/beitraege/sprachwandel-und-geschlecht-zu-einigen-irrtuemern-in-der-genderdebatte (abgerufen am 14.12.2024)
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Bei der gegenwärtigen Kontroverse darüber, ob sprachliche Geschlechtergerechtigkeit nötig oder möglich ist und wie man sie ggf. realisiert, ist man immer auf den gegenwärtigen Sprachzustand fixiert, der als unveränderlich postuliert wird. Interessanterweise bemühen viele – allen voran der Verein Deutsche Sprache (VDS) –, die sich gegen geschlechtergerechtes Formulieren wenden, die Sprachgeschichte so darzustellen, dass es das, wofür sie selbst plädieren, schon immer gegeben habe, dass Sprache somit stabil und unveränderlich sei, ja dass man ihr sogar Gewalt antue, würde man sie an neue Erfordernisse anpassen. Dabei ist Sprachwandel nichts anderes als die ständige Anpassung an gesellschaftliche Neuerungen. Grundsätzlich zeugt Sprachwandel von der Lebendigkeit einer Sprache, nur tote Sprachen (z.B. Latein) wandeln sich nicht mehr. Niemand versteht ohne sprachhistorische Bildung ältere Sprachstufen. Dass dieser reaktionäre Diskurs übrigens selbst von Geschlechterstereotypen durchzogen ist, darauf hat unlängst Henning Lobin hingewiesen: Die Sprache (übrigens ein Femininum)1 wird dabei als passive, wehr- und hilflose und natürlich schöne Frau konzipiert, die man(n) ritterlich vor Schändung, Gewalt, ja Vergewaltigung zu verteidigen habe: "Sprache wird dabei als der reine Körper eines unschuldigen Wesens gezeichnet, der durch seine Gegner ‚entstellt‘, ‚verrenkt‘ oder ‚vergewaltigt‘ wird und den es mannhaft zu beschützen gilt" (Lobin 2018)2. Allein die Herkunft und Verwendung dieser sexu(alis)ierten Metapher wäre eine Untersuchung wert.
Bei genauerem Hinsehen erweist sich jedoch sehr schnell, dass diejenigen, die so vehement die Sprachgeschichte zur Rechtfertigung ihres Konservativismus bemühen, keine sprachhistorischen Kenntnisse besitzen (können). Dies erinnert an die Zementierung traditioneller Rollenzuschreibungen, indem man diese einfach in die graue Vorzeit verlängert hat (sog. invention of tradition): Demzufolge sollen Frauen schon immer gesammelt und gekocht, Männer dagegen gejagt und Werkzeuge hergestellt haben. Diese Schimäre wurde durch archäologische Untersuchungen widerlegt (Röder 2014). Im vorliegenden Beitrag werde ich drei genderlinguistische Phänomene aus empirisch-sprachhistorischer Sicht skizzieren (s. mehr bei Kotthoff/Nübling 2018).
1 Auf die sehr enge Beziehung zwischen Genus (grammatisches Geschlecht) und persönlichem (außersprachlichem) Geschlecht kann hier nicht eingegangen werden, s. hierzu Kotthoff/Nübling (2018, 69-89) und Nübling (2020a, 2020b).
1. Aufregung um „Vorständin“ und „Gästin“ – Movierungen gab es schon immer
Gerade Laien entscheiden gerne, was in der deutschen Sprache möglich, erlaubt und verboten ist. Als ein Beispiel von vielen sei der Artikel „Sprach-Unsinn – Vorständinnen auf dem Vormarsch“ in der Wirtschaftswoche3 vom 14.01.2013 genannt, wo Reporter Ferdinand Knauß den Duden dafür kritisiert, die movierte (d.h. mit -in feminisierte) Form Vorständin aufgenommen zu haben. Vorständin sei „ein unsinniges Nicht-Wort […], weil der „Vorstand“ kein Mann, sondern ein Gremium ist“ (ebd.). Er empört sich auch darüber, dass der Duden die pure Gebräuchlichkeit eines Wortes als Kriterium für seine Aufnahme heranzuziehe. Ja was denn sonst? - ist man zu fragen versucht, aber Knauß hält dies mitnichten für eine „Petitesse“, „[d]enn Sprache ist nicht so harmlos wie Scholze-Stubenrecht [der damalige Duden-Lexikograph] und seine Kollegen meinen“. Vielmehr belehrt uns Knauß, dass Sprache Macht sei und wittert Orwell‘schen Neusprech, der das Denken verneble. Solche Kaskaden an kruden Assoziationen sind keine Ausnahmen, sie bevölkern die Feuilletons. Aus Sicht der Sprachwissenschaft ist dem zu entgegen, dass a) das bekannte Prinzip deutlich wird, dass neue Konzepte (Frauen in Vorständen) neue Benennungsbedarfe und damit Wörter generieren, b) dass kein Verbrechen an der Sprache erkennbar ist, wenn man sie erweitert und ausdifferenziert, c) dass niemand Herrn Knauß zwingt, solche Wörter in den Mund zu nehmen, und – vor allem – d) dass es solche Bildungsweisen schon immer gegeben hat und sie unauffällig und wohlgelitten unter uns weilen. Damit meine ich z.B. die Rätin, über die sich heute niemand aufregt und die auch in vielen Komposita wie Studienrätin, Bundesrätin enthalten ist. Ihre Basis ist mit Rat ebenfalls ein Gremium. Schließlich, e), müsste Herr Knauß mit dem gleichen Argument auch den (männlichen) Vorstand („Herr Dr. Klöbner ist neuer Vorstand“) verbieten (und den Rat gleich mit), denn auch dieser leitet sich aus dem Gremium ab. Dass aus abstrakt(er)en Bezeichnungen Konkreta gewonnen werden, ist ein bekannter und vielbegangener Sprachwandelpfad. Er betrifft auch die Heizung (als Gerät und nicht als Raumerwärmung) und die Bedienung (als Person). Und was schließlich die vielbescholtene Gästin betrifft: Sie ist sprachhistorisch bis ins 19. Jahrhundert reich belegt, diese Bildung war also geläufig und wird heute reaktiviert.
2. Mann und Frau vs. Mama und Papa – Paarformeln und ihr Wandel
Dass neuer Benennungsbedarf neue Wörter generiert, ist so alltäglich und naheliegend, dass es hierfür keiner weiteren Argumente bedarf. Umgekehrt werden Wörter (z.B. Fräulein) entrümpelt, wenn kein Bedarf mehr daran besteht. Vielmehr möchte ich zeigen, dass soziale Entwicklungen viel subtiler in die kaum beachtete Grammatik diffundieren können: Auch in der Syntax lassen sich Geschlechterordnungen aufdecken, deren Wandel sich dort niederschlägt. Gemeint ist die Abfolge zweier gleichgeordneter Personenbezeichnungen, z.B. Mutter und Kind, Mann und Frau, Adam und Eva. Die umgekehrte Reihenfolge wäre zwar denkbar, nur wird sie kaum praktiziert, und das hat Gründe. Solche „eingerasteten“ Wortpaare nennt man Paarformeln. Hintergrund ist das sog. semantische Ordnungsprinzip, diese Reihenfolge spiegelt Rangfolge: Das Wichtigere, Mächtigere, Aktivere, Normalere steht vorne, das weniger Wichtige etc. hinten. Bezüglich der Geschlechter stehen in den meisten Fällen Männer vorne, Frauen hinten (Ausnahme: Damen und Herren). Selbstverständlich leiten sich solche (Geschlechter-)Hierarchien aus gesellschaftlichen Bewertungen ab – und reproduzieren und bestätigen letztere umgekehrt, denn Sprache und Gesellschaft stehen in engem reziprokem Verhältnis. Da wir (immer noch) in einer patriarchalischen Gesellschaft leben, hält sich der Mann standhaft vorne – aber mit einigen Veränderungen im Zeitverlauf, die auf eine Lockerung der Geschlechterrollen hinweisen. Anne Rosar befasst sich damit in ihrer Dissertation. Sie analysiert große Zeitungskorpora zwischen 1947 und 2018, um mögliche Abschwächungen der männlichen (syntaktischen) Vorherrschaft oder gar Umkehrungen (sog. regenderings) aufzudecken. Dabei gelangt sie zu bemerkenswerten Befunden. So werden 1947 Söhne noch deutlich häufiger vor Töchtern genannt als 2018, die Relevanz von Geschlecht nimmt somit ab (degendering). Bekanntlich hat das Stammhalterprinzip an Bedeutung verloren, was sich seit einigen Jahren auch im veränderten (symmetrisierten) Ehenamenrecht niederschlägt. Auch bei Kindern hat sich ein De- und sogar leichtes Regendering einstellt, indem Jungen zunächst immer seltener vor Mädchen treten und dies um die Jahrtausendwende sogar kippt, d.h. heute besetzen Mädchen etwas häufiger die Erstposition. Ähnliches stellt Anne Rosar für die Folge Vater vor Mutter fest, wo (nur) im Plural eine deutliche Umkehr stattgefunden hat: Gingen anfangs die Väter den Müttern voraus, so kreuzen sich ihre Linien in den 1970er Jahren und stellen sich in zunehmendem Maß Mütter vor Väter (s. Grafik 1). Natürlich reflektiert dies gravierende soziale Umbrüche (zunehmende Frequenz und Relevanz alleinerziehender Mütter; Väter sind nicht mehr die alleinigen Familienvorstände), die sich subtil in diesen syntaktischen Abfolgen niederschlagen. Allerdings steht die Mutter konstant und mit klarem Abstand vorne, wenn sie aus der Kinderperspektive mit Mama oder Mami bezeichnet wird, während Papa/Papi durchgehend in deren Schatten verbleibt: Innerhalb der Familie sind die traditionellen Rollen fest. Auch die Oma geht dem Opa mit großem Abstand voraus. Doch in der Öffentlichkeit, dem Reproduktionskontext entbunden, tradiert sich beim adulten Menschen weiterhin das male-first-Prinzip, indem sich die Folge Mann vor Frau rigide hält. Selbst Tiere genderisieren wir (90% Männchen vor Weibchen, 75% Hengst vor Stute). Auch treten zu 80% Schwule vor Lesben und nur zu 20% umgekehrt (mehr in Kotthoff/Nübling 2018, 156-161, Nübling 2020a, Rosar demn.).
3. Darstellung von Frau und Mann in Wörterbüchern
Wörterbücher und Lexika sind nach wie vor von Geschlechterstereotypen durchzogen, trotz Kritik seitens der Linguistik. Berühmtheit erlangt hat die Wörterbuchanalyse von Luise Pusch „Sie sah zu ihm auf wie zu einem Gott – Das Duden-Bedeutungswörterbuch als Trivialroman“ (Pusch 1984, 135–144). Sie analysierte dort die Beispielsätze, die die prototypischen Wortbedeutungen illustrieren sollen, wie z.B. unter abbrausen: er braust mit Vollgas ab – sie braust die Kinder in der Wanne ab. Dabei legt sie ein durch und durch männerdominiertes Weltbild frei. Dort gibt es keine interessanten Frauenrollen, und wenn denn doch mal eine Frau arbeitet, wird sie darin abgewertet (Die Sängerin fiel gegen den Sänger stark ab). Außerdem sprechen oder befassen sich Frauen nie miteinander, vielmehr kreist ihr gesamtes Dasein, ihr Schalten und Walten um Mann und Kinder. Bei den Personennennungen entfallen nur 16% auf Frauen und 84% auf Männer. In Nübling (2009) werden Wörterbücher um die Jahrtausendwende untersucht und die Besetzung syntaktischer Rollen einbezogen, also die Frage, wer Subjekt und wer Objekt einer Handlung ist. Auch hier sind die Männer häufiger Subjekte, die Aktiven und Mächtigen, die Besitzer von Frauen. Während nach „Frau“ das Verb „ist“ dominiert (sie ist alt, älter, schön, blond; immer ist ihr Aussehen von höchster Relevanz), folgen nach „Mann“ eher Vollverben, die sein buntes Tätigkeitsspektrum beschreiben. Wörterbücher sind damit eine reiche Produktionsstätte von Genderstereotypen, was von der Lexikografie erst jüngst reflektiert und korrigiert wird.
Literatur
Kotthoff, Helga/Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen.
Nübling, Damaris (2009): Zur lexikografischen Inszenierung von Geschlecht – Ein Streifzug durch die Einträge von Frau und Mann in neueren Wörterbüchern. In: ZGL 37/3, 593-633.
Nübling, Damaris (2020a): Geschlecht in der Grammatik: Was Genus, Deklination und Binomiale uns über Geschlechter(un)ordnungen berichten. In: Muttersprache 130, 17-33.
Nübling, Damaris (2020b): Genus und Geschlecht. Zum Zusammenhang von grammatischer, biologischer und sozialer Kategorisierung. In: Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz,2020, Nr. 1. Stuttgart, 3-32.
Pusch, Luise (1984): Das Deutsche als Männersprache. Frankfurt.
Röder, Brigitte (2014): Ich Mann. Du Frau. Feste Rollen seit Urzeiten? Freiburg.
Rosar, Anne (demn.): Mann und Frau, Damen und Herren, Mütter und Väter – Zur (Ir-)Reversibilität der Geschlechterordnung in Binomialen. Erscheint 2022 in: Diewald, Gabriele/Nübling, Damaris (eds.): Genus – Sexus – Gender. Berlin/Boston