Pseudowissenschaftliche Behauptungen des VDS – eine Widerlegung
Damaris Nübling, JGU Mainz
Damaris Nübling, JGU Mainz. 2021.
https://www.sprache-und-gendern.de/beitraege/pseudowissenschaftliche-behauptungen-des-vds-eine-widerlegung (abgerufen am 13.01.2025)
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Dieser Beitrag ist eine veränderte Fassung von Damaris Nübling (2020): ÜberEmpfindlichkeiten? Die Geschlechter in der Sprache. In: Rendtorff, Barbara/ Warmuth, Anne-Dorothee/Mahs, Claudia (eds.): Geschlechterverwirrungen. Frankfurt: Campus-Verlag, 82-89.
Als Ausgangspunkt für die gegenwärtige Debatte für und gegen geschlechtergerechte Sprache bietet sich der im März 2019 vom „Verein Deutsche Sprache (VDS)“ lancierte Aufruf „Schluss mit dem Gender-Unfug“ an1. Dieser Verein, der sich durch weitgehende Abwesenheit linguistischer Expertise auszeichnet, zeigt sich um die deutsche Sprache besorgt und möchte sie mannhaft vor den „zerstörerischen Eingriffen“ zunehmender sprachlicher Geschlechtergerechtigkeit schützen. Da sich in diesem Aufruf einiges ansammelt, was viele für Gewissheiten über die Sprache halten, seien daraus einige Passagen zitiert:
„Die sogenannte gendergerechte Sprache beruht erstens auf einem Generalirrtum, erzeugt zweitens eine Fülle lächerlicher Sprachgebilde und ist drittens konsequent gar nicht durchzuhalten. Und viertens ist sie auch kein Beitrag zur Besserstellung der Frau in der Gesellschaft.“
Diese vier Punkte, die allesamt linguistische Uninformiertheit an den Tag legen, sollen zur Strukturierung dieses Beitrags herangezogen werden. Auf diesem Niveau dümpelt die öffentliche Debatte seit nunmehr fast fünf Jahrzehnten vor sich hin; diese Einwände werden immer wieder recycelt und sind längst widerlegt.
1 https://vds-ev.de/gegenwartsdeutsch/gendersprache/gendersprache-unterschriften/schluss-mit-dem-gender-unfug (Zugriff: 26.04.2019)
1. Genus verweist sehr wohl auf Geschlecht, und dies äußerst komplex und verlässlich
Immer wieder vernimmt man, dass Genus (als grammatische Kategorie mit den drei Ausprägungen Femininum, Maskulinum und Neutrum) nichts mit dem Geschlecht – sei es biologisch bestimmt (Sexus) oder sozial (Gender) – eines Tieres oder eines Menschen zu tun habe. Manche versteigen sich sogar zu der Unterstellung, die Linguistik vermöge diese beiden Kategorien nicht zu unterscheiden. Auch der „Aufruf“ beteiligt sich rege daran:
„Der Generalirrtum: Zwischen dem natürlichen und dem grammatischen Geschlecht bestehe ein fester Zusammenhang. Er besteht absolut nicht. Der Löwe, die Giraffe, das Pferd."
Hier wird jeglicher Zusammenhang zwischen „natürlichem“ (Sexus) und „grammatischem Geschlecht“ (Genus), der von der Linguistik für Menschen reklamiert wird, geleugnet und mit ein paar Beispielen aus dem Tierreich garniert. Dabei gibt es unter den sog. Genuszuweisungsprinzipien, die die Zuordnungen zwischen Form oder Bedeutung von Substantiven und ihrem Genus eruieren, formale (sich aus der Form ergebende) und semantische (sich aus der Bedeutung ergebende) Regeln. Die wichtigste besteht im sog. Genus-Sexus-Prinzip. Es sei im Folgenden nach der jeweiligen Perspektivierung – ob von der Semantik zum Genus zielend (1.1) oder vom Genus zur Semantik (1.2) - differenziert.
1.1 Die sog. Sexus-Genus-Regel
Die verlässlichste aller semantischen Regeln besteht im sog. natürlichen Geschlechtsprinzip (Köpcke/Zubin 1984), das besagt, dass Bezeichnungen mit der festen Bedeutung ‚weiblich‘ feminin und solche mit ‚männlich‘ maskulin seien: die Frau, Mutter, Tante – der Mann, Vater, Onkel etc. Dieses Prinzip ist so mächtig, dass es produktiv auf Fremdwörter angewandt wird: die Queen, die Lady – der King, der Boy. Sogar die ihm besonders nahestehenden Nutztiere schließt der Mensch (der selbstverständlich als einziger diese Grammatik über viele Jahrhunderte kollektiv hervorgebracht hat) in dieses sog. Sexus-Genus-Prinzip ein, obwohl es primär für den Humanbereich gilt: die Kuh, die Stute vs. der Ochse, der Hengst etc. Bei Menschen wirkt dieser Zusammenhang zwischen Geschlecht und Genus sogar so fest und zuverlässig, dass die vermeintlichen und immer wieder vorgebrachten ‚Ausnahmen‘ diese Regel bei genauerem Hinsehen frappierend bestätigen: Es sind aus der Geschlechterordnung exkommunizierte Randfiguren, Außenseiter und Versager, die vom Sexus-Genus-Prinzip ausgeschlossen sind: das Weib, zusammen mit das Mensch, das Ding, das Stück etc. als derogative Bezeichnungen bzw. Schimpfwörter für nicht gesellschaftsfähige, oft liederliche Frauen, das Frauenzimmer, das Fräulein und das Mädchen als noch unfertige Frauen, die erst mit Ehe und Mutterschaft in den sog. dritten und letzten Geschlechtszustand aufsteigen (zu diesem soziologischen Konzept und seiner linguistischen Fundierung s. Hirschauer et al. 2014, S. 263-267, Kotthoff/Nübling 2018, S. 204-209; Nübling 2020a, 2020b). Wie einige der Beispiele zeigen, werden dafür Diminutiva mit -chen oder -lein gebildet, die ein solches Neutrum (neben dem Ausdruck von Kleinheit, Minderwertig- bzw. Unfertigkeit) schon mitbringen und die zur Hauptbezeichnung der Zugehörigkeit zu diesen prekären Geschlechtszuständen (dem unreifen Mädchen bzw. dem geschlechtsreifen, aber unbemannten Fräulein) mutiert sind, während auf männlicher Seite weder Diminutiva noch Neutra zu finden sind, nicht einmal für kleine Jungen. Selbst Dialektwörter für Mädchen stehen immer wieder im Neutrum (das Dirndl, Wicht, Luit, Deern, Maitli), während solche für den Jungen im geschlechtskongruenten Genus des Maskulinums verbleiben (der Junge, der Bub/Bua, der Kerl etc., s. König 2005, S. 166). Natürlich kündet die sprachliche Geschlechterordnung, die als Kondensat historischer Geschlechterrollen zu verstehen ist, auch von der Exkommunikation von Männern. Deren Bezeichnungen geraten ebenfalls in ein ‚falsches‘ Genus, und zwar genügt hierfür das ‚Frauengenus‘ Femininum: Die Tunte, Tucke, Schwuchtel, Memme bezeichnen solche Männer, die sich nach früherer (und durchaus auch heute noch zu findender) Vorstellung als ‚richtige‘ Männer disqualifizieren, indem sie das ‚falsche‘ Geschlecht begehren (Schwuchtel etc.) bzw. ihnen zugewiesenen Eigenschaften (Mut, Durchsetzungskraft, Draufgängertum) nicht nachkommen (Memme, Lusche). Linguistisch und soziologisch interessant wird es dann, wenn man fragt, warum deviante Männer ‚nur‘ ins Femininum geraten, deviante Frauen aber seltener ins Maskulinum als vielmehr ins Neutrum, dem Genus für junge, unreife Menschen (das Kind, Neugeborene, Baby), für Tiere (ob jung oder ausgewachsen), und vor allem für Objekte und Stoffe (das Eisen, Metall, Wasser). Das Neutrum als ‚sächliches Genus‘ zu umschreiben, ist in Anbetracht seiner Mitglieder sachlich weniger unzutreffend als oft suggeriert. Das heißt: Bei der Genuskategorisierung sozial devianter Männer scheint das Femininum für ihre Abwertung auszureichen, während dies umgekehrt für das Maskulinum zur Bezeichnung devianter Frauen nicht gilt (das womöglich sogar eine Aufwertung leisten könnte). Hierfür wird das dritte Genus des unbelebten Neutrums genutzt (weitere Argumente für diese Zusammenhänge sind Nübling 2017, 2020a, 2020b, Kotthoff/Nübling 2018 zu entnehmen). Was bei alledem offenkundig wird, ist die Unzulänglichkeit des auch in der Linguistik häufig zu findenden biologistischen Sexusbegriffs. Bei genauerem Hinsehen geht es um viel mehr, nämlich um soziales Geschlecht (Gender), d.h. um Geschlecht im umfassenden Sinn.
1.2 Die sog. Genus-Sexus-Regel
Den eben aufgezeigten engen Nexus zwischen Geschlecht und Genus kann man auch umkehren und danach fragen, ob allein schon Genus seinerseits eine Sexus- oder, allgemeiner, eine Geschlechtsassoziation auszulösen vermag. Immerhin wird der Rhein als Mann und die Mosel als Frau personifiziert, ebenso der Löffel vs. die Gabel etc. (zu mehr Beispielen s. Köpcke/Zubin 2012).
Dies adressiert direkt die Frage nach der Existenz eines sog. generischen im Sinne eines geschlechtsübergreifenden oder -neutralisierenden Maskulinums, konkret: Verbindet man mit Arbeiter, Student, Pilot oder Leser beide Geschlechter gleichermaßen (wie oft behauptet) oder nur bzw. eher Männer? Die Antwort ist der Linguistik seit Jahrzehnten bekannt: Sämtliche Tests und psycholinguistischen Experimente haben bei unterschiedlicher Designs und Methoden immer wieder bestätigt, dass maskuline Personenbezeichnungen per se selbst dann mehr Männer als Frauen aufrufen, wenn der betreffende Beruf mehrheitlich von Frauen ausgeübt wird (Pfleger, Erzieher). Noch viel mehr gilt dies für Berufe und Tätigkeiten, die mehrheitlich von Männern ausgeübt werden (Fußballer, Politiker, Pilot). Im Englischen, das kein nominales Genus kennt, richtet sich die Pronominalisierung durch he bzw. she von Berufsbezeichnungen wie social worker, teacher, doctor, pilot ausschließlich nach den sozialen Stereotypen. Dies lässt umso genauer den Einfluss von Genus im Deutschen ermessen. Selbst bei Tierbezeichnungen wie die Giraffe oder der Löwe haben korpuslinguistische Untersuchungen unlängst erwiesen, dass eine Giraffe ohne weiteres trächtig sein und Junge säugen kann, nicht jedoch gleichermaßen ein Löwe: Hier müssen feminine Bezeichnungen wie Löwin, Löwenmutter etc. gebildet werden (s. Lind/Späth demn.). Auch die Vergeschlechtlichung von Tieren in Kinderbüchern folgt eng (zu ca. 90%) deren Genus, s. Herr Fuchs und Frau Elster (Bickes/Mohrs 2010). Somit erweisen sich sämtliche „Gegenbeispiele“ des Aufrufs als Bumerang: Genus hat sogar mehr mit Geschlecht zu tun als bislang bekannt.
2. Lächerliche Sprachgebilde?
Angesichts dieser klaren Diagnose obliegt es jedem und jeder Einzelnen, daraus Konsequenzen zu ziehen oder auch nicht. Niemand ist verpflichtet, sich im Alltag um sprachliche Gleichstellung zu scheren, es sei denn, man gehört zu den wenigen, die beruflich mit der Abfassung offizieller Texte betraut und angehalten sind, sprachliche Gleichstellung umzusetzen. Hierfür gibt es mittlerweile mehrere Leitfäden und Ratgeber (wie z.B. der 2018 vom Duden herausgegebene Ratgeber „Richtig gendern“), die sowohl für die in Schulen und Behörden Tätigen als auch für den privaten Sprachgebrauch eine breite Palette an Möglichkeiten anbieten, die von Formen der Beidnennung (Lehrerinnen und Lehrer, Lehrer/-innen etc.) über Neutralisierungen durch pluralisierte Partizipien (die Auszubildenden) oder durch Kollektiva (die Lehrerschaft) bis hin zu eleganten Umschreibungen (alle, die tanzen statt die Tänzer und Tänzerinnen) reichen und, ist man nur willens, nicht allzuviel Kreativität erfordern, nur etwas Sprachgefühl und Übung. Wer Geschlechter jenseits der Binarität adressieren möchte, kann – wenngleich von der Orthographie, die nur für Schulen und Behörden gilt, nicht zugelassen – auch den Genderstern oder Doppelpunkt verwenden (Student*innen, Student:innen). Niemand empfiehlt oder befiehlt gar den pedantischen und unsinnigen Einsatz nur eines einzigen Verfahrens, wie dies besorgte Sprachbeschützer immer wieder insinuieren, wenn sie (wie im „Aufruf“) meinen, vor Radfahrenden, Fahrzeugführenden, Arbeitnehmenden, ja sogar Studierenden warnen zu müssen. Dass dieses im Plural neutralisierende Wortbildungsmuster mit Vorsitzenden und Reisenden bereits gut besetzt ist, wird übersehen. Rezipiententests haben erwiesen, dass sämtliche Formen der Beidnennung ausgewogenere Geschlechterassoziationen bewirken als Verfahren der Neutralisierung oder der Geschlechtsabstraktion, denn hier bewirkt ein male bias eine männliche Schlagseite. Nur Formulierungen, die Frauen explizit nennen (sog. Sichtbarmachungsstrategien, am ehesten die Schreibung mit Binnenmajuskel: LehrerInnen), führen zu halbwegs geschlechtsausgewogenen Interpretationen. Am schlechtesten schneiden immer wieder maskuline Personenbezeichnungen im Singular ab (der Lehrer), auch wenn sie noch so geschlechtsneutral intendiert sein mögen. Die Wirkung von Sternchen- oder Doppelpunktformen wurde noch nicht getestet (zu einem Überblick mit entsprechender Literatur s. Kotthoff/Nübling 2018, S. 91-127), ebenso wenig das nicht selten praktizierte Verfahren, zwischen generisch intendierten Maskulina und Feminina abzuwechseln (mal Sprecherin, mal Hörer und umgekehrt), um die Irrelevanz von Geschlecht zu signalisieren.
3. Immer wiederkehrend: das Raucherinnenabteil und die Salzstreuerin
GegnerInnen geschlechterbewussten Sprachgebrauchs werden nicht müde, unablässig dieselben Fehlinformationen und Übertreibungen in die Welt zu setzen. Dahinter will auch der „Aufruf“ nicht zurückstehen:
„Nicht durchzuhalten: Wie kommt der Bürgermeister dazu, sich bei den Wählerinnen und Wählern zu bedanken – ohne einzusehen, dass er sich natürlich „Bürgerinnen- und Bürgermeister“ nennen müsste? Wie lange können wir noch auf ein Einwohnerinnen- und Einwohnermeldeamt verzichten?“ [es folgen weitere Beispiele dieses Strickmusters]
Wie oben angedeutet, haben die Untersuchungen erbracht, dass Numerus eine wichtige Rolle spielt: Autor im Singular ruft stärker die männliche Lesart auf als Autoren im Plural, was damit zusammenhängt, dass einzelne Menschen kaum geschlechtslos vorstellbar sind (man denke an das notorische Problem, geschlechtsneutrale Personen auf Schildern darzustellen), während das jeweilige Geschlecht von Personen in einer Gruppe zurücktritt. Ähnliche Effekte erzeugt die syntaktische Position der Bezeichnung: Steht sie in der Anrede, ist die sog. Referenzialität (als Grad der Identifizierung von Einzelpersonen) am höchsten erfüllt, d.h. hier wird (längst) am häufigsten gesplittet, um sicherzugehen, dass sich auch wirklich alle angesprochen fühlen („liebe Kundin, lieber Kunde“ oder „liebe Kundinnen und Kunden“). Kaum eine Werbung kann oder will es sich leisten, Menschen auszuschließen. Dies lässt schön erkennen, dass Paarformen offensichtlich doch benötigt werden, denn sonst könnte man ja „den Kunden“ adressieren. Auch die Subjektposition per se erzeugt einen hohen Referenzialitätsgrad, denn hier tritt die Person als handlungsmächtiges Agens in Erscheinung (mein Nachbar raucht ständig). Ein Maskulinum wird hier viel eher vergeschlechtlicht als wenn dieselbe Bezeichnung innerhalb eines Adverbials vorkommt (Geben Sie das Paket bitte beim Nachbarn ab!). Im letzten Beispiel ist das Geschlecht irrelevant (es könnte auch eine Frau das Paket entgegennehmen, die Postbotin wäre nicht erstaunt), während im ersten Beispiel kaum jemand eine rauchende Frau erwarten würde. Diese unterschiedlichen Referenzialitätsgrade beeinflussen somit die Genderisierung ein und derselben Personenbezeichnung.2
Am wenigsten Referenzialität und damit geringste Geschlechtsassoziation gilt für die Erstglieder von Komposita wie in Raucherabteil oder Einwohneramt. Daher erübrigt sich hier die Movierung oder gar eine Doppelform, auch der Duden-Ratgeber rät davon ab. Vielmehr empfiehlt er die folgende Dringlichkeit sog. sprachlichen Genderns: direkte Anrede > Subjekt > Objekt > Prädikativ > andere syntaktische Positionen > Erstglieder von Komposita bzw. Basis von Derivationen. Dass Objektbezeichnungen wie Salzstreuer keine Personen bezeichnen und daher auch kein Geschlecht assoziieren lassen, versteht sich von selbst (seine Movierung mit ‑in dient, ebenfalls seit Jahrzehnten, der Lächerlichmachung geschlechterbewusster Fomulierungen).
Die Vergeschlechtlichung einer maskulinen Personenbezeichnung hängt auch davon ab, ob ihr ein moviertes Femininum zukommt (z.B. Lehrerin zu Lehrer) oder nicht (Gast, Star), wie ggf. diese Frequenzrelation beschaffen ist (Terroristin kommt im Vergleich zu Terrorist viel seltener vor als Lehrerin gegenüber Lehrer) und ob das Wort einen Beruf bezeichnet (dies begünstigt per se die männliche Lesart, z.B. Arbeiter) oder nicht (Einwohner). Schließlich wirkt auch der Kontext ein: Gleiche Bezeichnungen werden in einem Eishockey-Kontext männlicher vergeschlechtlicht als in einem Gymnastikkontext.
2 Diese linguistischen Fakten erklären auch, weshalb ein in vielen feministischen Beiträgen vorkommendes 'Sprachrätsel', das die Funktionstüchtigkeit des sog. generischen Maskulinums widerlegen soll, so schlecht funktioniert (es wurde allzu unvorsichtig aus dem genuslosen Englischen in die Genussprache Deutsch übertragen):
Vater und Sohn fahren im Auto. Sie haben einen schweren Unfall, bei dem der Vater stirbt. Der Junge wird mit schweren Kopfverletzungen in ein Krankenhaus gebracht, in dem ein Chef-Chirurg arbeitet, der eine bekannte Kapazität für Kopfverletzungen ist. Die Operation wird vorbereitet, alles ist fertig, als der Chef-Chirurg erscheint, blass wird und sagt: „Ich kann nicht operieren, das ist mein Sohn!“. Frage: In welchem Verwandtschaftsverhältnis stehen der Chirurg und das Kind?
Niemandem ist zu verübeln, mit Chefchirurg nicht die hier anscheinend erwartete Mutter zu assoziieren. Was im Englischen funktioniert, muss es im Deutschen noch lange nicht: Zunächst wird ein Chefchirurg (m.) eingeführt, der dann mit dem Definitartikel wiederaufgegriffen und identifiziert, ja sogar in die Subjektsposition gehoben wird (der Chefchirurg sagt X). Wäre eine Frau gemeint, müsste das Femininum Chirurgin auftreten.
4. Haben wir keine größeren Probleme?
Viele selbsternannte SprachschützerInnen entwerten die Bemühungen um geschlechtergerechte Formulierungen mit dem Hinweis, dass damit nicht mehr Frauen in höhere Positionen oder zu besseren Bezahlungen kommen. Überhaupt müsse man an ganz anderen Fronten für die Gleichstellung kämpfen. Abgesehen davon, dass man das eine tun kann, ohne das andere lassen zu müssen, sind solche unterstellten Direktzusammenhänge zwischen sprachlicher und gesellschaftlicher Teilhabe naiv, sie werden auch von niemandem ernsthaft vertreten. Vielmehr ist das Verhältnis von Sprache und Gesellschaft komplex und reziprok beschaffen: Zum einen formt das jahrhundertelange Sprechen Lexik und Grammatik einer Sprache, umgekehrt wirken diese Bausteine und Strukturen, indem wir sie unablässig gebrauchen, auf unsere Wahrnehmung, Perspektivierung und Hervorbringung von Wirklichkeit ein. Will man die im Laufe der Jahrhunderte sedimentierten patriarchalen Strukturen aus der Sprache beseitigen, bedarf es reflektierter Justierungen durch Sprachkritik. Auf diese Weise ist z.B. das anfangs vielbedauerte Fräulein binnen weniger Jahre beseitigt worden: Es ist heute durch nichts zu rechtfertigen, weshalb eine Frau zur Auskunft über ihren Ehestand verpflichtet sein soll, während dieselbe Information beim Mann (*Herrchen) noch nie von Relevanz war.
Insgesamt erinnert die Aufregung über die sprachliche Gleichstellung an das 18. und 19. Jahrhundert, als nicht mehr nur Personen hohen Standes, sondern auch Bauern, Arbeiter und Dienstpersonal statt, wie bislang üblich, mit ihrem blanken Vornamen (Grete, Fritz) nun mit Frau bzw. Fräulein Müller und Herr Meier adressiert werden wollten. Dies führte zu zeitgenössischen Empörungen und Sprachverfallsängsten. Ähnlich wie heute zwischen den Geschlechtern wurde damals die sprachliche Gleichstellung zwischen den Ständen verhandelt, in beiden Fällen handelt es sich um soziale wie sprachliche Demokratisierungsprozesse. Dabei geht eine Sprache niemals unter – im Gegenteil: Sprachwandel ist das beste Zeichen für die Lebendigkeit einer Sprache. Nur tote Sprachen verändern sich nicht mehr.
Literatur
Bickes, Christine/Mohrs, Vera (2010): Herr Fuchs und Frau Elster – Zum Verhältnis von Genus und Sexus am Beispiel von Tierbezeichnungen. In: Muttersprache 4, 254-274.
Diewald, Gabriele/Steinhauer, Anja (2017): Duden - Richtig gendern. Wie Sie angemessen und verständlich schreiben. Berlin.
Hirschauer, Stefan et al. (2014): Soziologie der Schwangerschaft. Explorationen pränataler Sozialität. Stuttgart.
König, Werner (2005): dtv-Atlas Deutsche Sprache. München.
Köpcke, Klaus-Michael/Zubin, David (1984): Sechs Prinzipien für die Genuszuweisung im Deutschen: Ein Beitrag zur natürlichen Klassifikation. In: Linguistische Berichte 93, S. 26-50.
Köpcke, Klaus-Michael/Zubin, David (2012): Mythopoeia und Genus. In: Günthner, Susanne et al. (eds.): Genderlinguistik. Sprachliche Konstruktionen von Geschlechtsidentität. Berlin/Boston, S. 381-411.
Kotthoff, Helga/Nübling, Damaris (2018): Genderlinguistik. Eine Einführung in Sprache, Gespräch und Geschlecht. Tübingen.
Lind, Miriam/Späth, Lena (demn.): Von säugenden Äffinnen und trächtigen Elefantenkühen – Zum Geltungsbereich der Genus-Sexus-Korrelation. Erscheint 2022 in: Diewald, Gabriele/Nübling, Damaris (eds.): Genus – Sexus – Gender. Berlin/Boston.
Nübling, Damaris (2020a): Geschlecht in der Grammatik: Was Genus, Deklination und Binomiale uns über Geschlechter(un)ordnungen berichten. In: Muttersprache 130, 17-33.
Nübling, Damaris (2020b): Genus und Geschlecht. Zum Zusammenhang von grammatischer, biologischer und sozialer Kategorisierung. In: Abhandlungen der Geistes- und sozialwissenschaftlichen Klasse der Akademie der Wissenschaften und Literatur Mainz, 2020, Nr. 1. Stuttgart, 3-32.