Geschlechtsspezifische Stereotype im Sprachgebrauch 1

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Geschlechtsspezifische Stereotype im Sprachgebrauch 1
Sina Lautenschläger. 2022.
https://www.sprache-und-gendern.de/beitraege/geschlechtsspezifische-stereotype-im-sprachgebrauch (abgerufen am 10.09.2024)

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1 Eine detailliertere Darlegung der Ausführungen dieses Beitrags findet sich in Lautenschläger 2018.

Wer den Ausdruck gendergerechter Sprachgebrauch hört oder liest, dürfte zunächst an die Diskussionen zur Vermeidung des generischen Maskulinums zugunsten bestimmter Alternativen denken, um Personen(gruppen) gendergerecht zu adressieren oder auf sie zu referieren. Auch wenn sich in der öffentlichen wie auch in der linguistischen Debatte die Pro- und Contra-Darstellungen auf diesen Bereich der gendergerechten Berufs- und Personenbezeichnung fokussieren (einen guten Überblick bietet Müller-Spitzer 2021), ist dies aber nur ein Teil dessen, was genderlinguistische Forschung kennzeichnet. Sie interessiert sich nämlich ebenso für die über Sprache vermittelten sozialen Normen, die durchaus mit (mehr oder minder) verdeckten Formen sprachlicher Diskriminierung einhergehen können, um sie einer bewussten Reflexion zugänglich und dadurch vermeidbar zu machen. Diese Formen sind dabei nicht punktuell an die Verwendung bestimmter Ausdrücke gebunden, etwa in der Form X ist Y (z.B. Frauen sind Familien-, Männer sind Karriere-Wesen), sondern sie vollziehen sich flächig und assoziativ – und genau diesen Assoziationsstereotypen, die über den Sprachgebrauch vermittelt werden, widmet sich dieser Kurzbeitrag. Bevor aber darauf eingegangen wird, soll zunächst kurz die Datenbasis skizziert werden, auf der die Ergebnisse beruhen.

1 Sprachgebrauchsmuster in deutschen Pressetexten

Die Geschlechterstereotype, die im Folgenden diskutiert werden, konnten anhand einer korpuslinguistischen Studie ermittelt werden. Korpuslinguistisch zu arbeiten heißt, dass sehr große Textmengen maschinell und mittels statistischer Berechnungen auf Sprachgebrauchsmuster durchsucht werden. Bei Sprachgebrauchsmustern (vgl. grundlegend dazu Bubenhofer 2009) handelt es sich generell um einen Sprachgebrauch, der nicht nur singulär auftritt, sondern häufig und typisch für X ist – X bedeutet in diesem Fall: typisch für bestimmte Zeiträume (s.u.) in bundesdeutschen Pressetexten.

Mit einer sogenannten Kookkurrenzanalyse werden statistisch signifikante Kookkurrenzen berechnet, also das gemeinsame Vorkommen von zwei Wörtern, das so häufig ist, dass es nicht mehr mit bloßem Zufall zu erklären ist (vgl. Perkuhn/Keibel/Kupietz 2012: 100 ff.). Die Software COSMAS II des Leibniz-Instituts für Deutsche Sprache (IDS)2 errechnet also z.B. zum Such-Lexem Frau den Kookkurrenzpartner Kinder, d.h. zwischen beiden Lexemen besteht eine musterhafte und auffällige Beziehung, die im Anschluss an diese Berechnung linguistisch genauer betrachtet werden muss. 

Vor dem Hintergrund einer kulturorientierten Linguistik (vgl. z.B. Gardt 2003) wird davon ausgegangen,

dass sich soziales Handeln sprachlich niederschlägt. Soziales Handeln führt zu einem typischen Sprachgebrauch, der statistisch auffällig ist. Es sollte also möglich sein, von den Beobachtungen über typischen Sprachgebrauch in einem gewissen Maß auf die gesellschaftliche Organisation von Welt schließen zu können (Bubenhofer 2009: 2-3).

In dieser Annahme sedimentiert sich die Erkenntnistheorie des sprachbezogenen Konstruktivismus. Er geht „von der sprachlichen Gebundenheit des Weltzugangs und der wirklichkeitskonstituierenden Kraft der Sprache“ aus (Gardt 2018: 1) und hebt somit auf die sprachliche Perspektivierung von Welt und Wirklichkeit ab: Sprache leitet uns maßgeblich bei der Kategorisierung unserer Umwelt an. Dabei handelt es sich aber nicht um eine individuelle, sondern um eine kollektive, sprachinhärente Perspektive:

Wir eignen uns die Welt entlang der lexikalischen Kategorien und grammatischen Strukturen an, die wir in der Sprache vorfinden und die wir neu in ihr schaffen. Indem Sprache die Dinge der Welt nicht einfach passiv abbildet, sondern unseren geistigen Zugang zu ihnen leitet, prägt sie unser Bild von der Wirklichkeit. (ebd.)

Über typischen, musterhaften Sprachgebrauch sollen daher „die in der Sprache sedimentierten Wissensbestände, Positionen, Meinungen, Überzeugungen einer Sprach- und Kulturgemeinschaft“ offengelegt werden (ebd. 13). Um das tun zu können, wurden als Datengrundlage drei Korpora aus bundesdeutschen Pressetexten erstellt, die sowohl synchron als auch diachron, d.h. innerhalb eines Zeitraums sowie historisch vergleichend, analysiert wurden. Korpus 1 umfasst die Jahre 1984-1986 (10.731 Texte), Korpus 2 1997-1999 (1.254.910 Texte) und Korpus 3 2010-2012 (1.767.977 Texte). Analyserelevant sind dabei nur jene Texte, in denen bestimmte Such-Lexeme (z.B. Frau, Mann, weiblich, männlich3; s. dazu Lautenschläger 2018) mit ihren jeweils errechneten Kookkurrenzpartnern auftreten.

Zusammengefasst heißt das: Die Art und Weise, wie in Pressetexten über die Geschlechter geschrieben wird, gibt einen Aufschluss darüber, wie sie in der Sprachgemeinschaft, in der diese Texte produziert und rezipiert werden, musterhaft und überindividuell perspektiviert werden. Maßgeblich sind dabei stereotype Vorstellungen, die oft über Jahrhunderte hinweg Stabilität besitzen und durch diese (sprachliche) Tradierung in hohem Maße die Wahrnehmung der Geschlechter prägen und anleiten.

2 Siehe: https://www2.ids-mannheim.de/cosmas2/uebersicht.html (zuletzt abgerufen am 28.04.2022).

3 Es zeigte sich, dass in den Pressetexten Auseinandersetzungen mit Gender-Konstrukten, die nicht dem Binarismus männlich-weiblich entsprechen, kaum Berücksichtigung finden, weshalb die folgenden Ausführungen zwangsläufig auf diesen Binarismus enggeführt sind.

2 Geschlechtsspezifische Assoziationsstereotype

Stereotype im Allgemeinen und Geschlechterstereotype im Besonderen lassen sich beschreiben als Hilfsmittel zur Verallgemeinerung, Vereinfachung, Reduktion und Bewertung der Eindrücke und Informationen, die von unserer Umwelt auf uns einwirken. Ihnen voraus geht der Prozess der Kategorisierung, der nicht nur unumgänglich, sondern auch kognitiv notwendig ist, denn der „menschliche Verstand braucht zum Denken Kategorien […]. Wenn sich Kategorien gebildet haben, werden sie zur Grundlage für das normale Vorausurteil. Diesen Prozeß können wir auf gar keinen Fall vermeiden, denn unser geordnetes Leben beruht darauf“ (Allport 1971: 24). Analoges gilt für den Prozess der Stereotypisierung: Mit bestimmten Kategorien wird ein bestimmtes stereotypes Wissen verbunden, das „durch die bloße Anwesenheit eines Vertreters dieser Gruppe automatisch aktiviert wird – also, ohne dass wir uns dagegen wehren können und zunächst ohne dass wir uns dessen bewusst sind“ (Schmid Mast/Krings 2020: 33). Erst im Nachgang können die aktivierten Stereotype modifiziert oder verdrängt werden, aber das bedarf kognitiver Anstrengungen (vgl. ebd.). 

Kurzgefasst heißt das: Während bei der Kategorisierung das Einordnen eines X in eine bestimmte Kategorie Y stattfindet, fällt dessen positive wie negative Bewertung und das Zuordnen (ebenfalls bewerteter) Eigenschaften, Vorlieben, Verhaltensweisen etc. in den Bereich der Stereotype. Diese Bewertung ist dabei individuell und kollektiv zugleich: In einer Sprach- und Kulturgemeinschaft kursieren bestimmte kollektive und konsensuelle (Norm-)Vorstellungen von z.B. Männlichkeit und Weiblichkeit, die auf die Individuen einwirken und sie prägen; gleichzeitig sorgen diese Individuen dafür, dass und welche dieser (Norm-)Vorstellungen aufrechterhalten und in das Kollektiv (zurück-)getragen werden. 

Stereotype bilden sich also zwangsläufig im Prozess der (geschlechtsspezifischen) soziokulturellen Sozialisation – dies geschieht zum einen durch eigene Erfahrungen und Beobachtungen, zum anderen aber maßgeblich durch die Sprache (s.u.) – und beeinflussen dann die Aufmerksamkeit und Wahrnehmung sowie die Informationsverarbeitung, d.h. sie leiten das Interpretieren von Information und infolgedessen auch die Schlussfolgerungsprozesse an, wie ein X zu bewerten und infolgedessen auch damit umzugehen ist (vgl. Petersen/Six 2020: 22; Allport 1971: 199). Dass wir unsere Mitmenschen z.B. (dichotomisch) nach Geschlecht kategorisieren und dadurch wissen (oder vermuten), wie wir mit ihnen umzugehen und was wir zu erwarten haben, erleichtert unsere Weltwahrnehmung und unser Handeln erheblich, denn wir haben dadurch eine Art sozialen Fahrplan, der uns stetig Orientierung bietet. In Sekundenschnelle ist es uns damit möglich, „Menschen auch dann zu beurteilen und zu bewerten, wenn außer der Kategoriezugehörigkeit nur wenige Informationen vorliegen“ (Klauer 2020: 24).4

Wie erwähnt, ist die Sprache maßgeblich beteiligt an der Produktion und Aufrechterhaltung von Stereotypen: Denn das Sprechen und Schreiben über X ist ausgeprägter als die eigenen, unmittelbaren Erfahrungen damit5 (vgl. Konerding 2001: 157) – man übernimmt stereotype Zuschreibungen also (unkritisch) von den eigenen Gruppenmitgliedern (vgl. Konerding 2006: 2613) bzw. vom Kollektiv und reproduziert sie, ohne sich zwangsläufig bewusst darüber zu sein, dass und woher man sie eigentlich hat. Sie bilden somit nicht-hinterfragte und unbewusst verfügbare Merkmalszuschreibungen, mit denen neben den benannten Vorteilen auch Nachteile einhergehen: Als Folge der Komplexitätsreduktion können Stereotype zu stark simplifizieren und dadurch die „Wahrnehmung der Wirklichkeit einschränk[en]“ (Hansen 2009: 59). 

Obwohl man sich nun aber der Tatsache bewusst sein kann, dass sich Stereotype widersprüchlich zur Wahrheit verhalten – dass z.B. nicht alle Frauen unbedingt Mütter werden wollen oder alle Männer lieber Karriere machen, statt Familienarbeit zu leisten –, sind sie trotzdem „weitgehend resistent gegen gesellschaftliche und individuelle Veränderungen“ (Stocker 2005: 57). Dies zeigt sich daran, dass heute noch immer Geschlechterstereotype zum Tragen kommen, die sich im 18./19. Jahrhundert ausgebildet haben. Hier nimmt das Konzept der bürgerlichen Kleinfamilie mitsamt strikter und komplementärer Geschlechterrollen-Verteilung seinen Anfang: Die Welt wird binär gegliedert in eine Männer- und Frauenwelt (vgl. Wetterer 2008: 131; Schaufler 2002: 195). Frauen werden seitdem assoziiert mit dem häuslich-familiären Bereich und dadurch mit Merkmalen wie Abhängigkeit, Hingabe, Liebe, Emotionalität und Passivität (vgl. Bilden 1980), wohingegen Männern komplementär dazu die öffentlich-berufliche Sphäre zugeschrieben wird, verbunden mit Merkmalsassoziationen wie Selbstständigkeit, Aktivität, Durchsetzungsfähigkeit und Rationalität (vgl. ebd.). Auf Basis dieser stereotypen Bewertungs- und Erwartungsgrundlage kann es bei Verstößen gegen stereotype Norm-Annahmen im besten Fall zu Überraschung, im schlechtesten Fall zu Ablehnung kommen, was Eckes (2008: 171) auf die deskriptiv-beschreibenden und die präskriptiv-normierenden Anteile von Geschlechterstereotypen zurückführt:

Die deskriptiven Anteile umfassen traditionelle Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sind, welche Eigenschaften sie haben und wie sie sich verhalten. Frauen „sind“ danach verständnisvoll und emotional, Männer „sind“ dominant und zielstrebig. Aus Verletzungen dieser Annahmen folgt typischerweise Überraschung. Die präskriptiven Anteile beziehen sich auf traditionelle Annahmen darüber, wie Frauen und Männer sein sollen oder wie sie sich verhalten sollen. So „sollen“ Frauen einfühlsam sein, Männer „sollen“ dominieren. Werden präskriptive Annahmen verletzt, resultiert in der Regel Ablehnung oder Bestrafung. 

Linguistisch betrachtet lassen sich Geschlechterstereotype als eine Form des sogenannten assoziativ-semantischen Stereotyps klassifizieren. Es handelt sich um mit einem Wort verbundene und kollektiv verfestigte Bedeutungskomponenten, die man in einem Wörterbuch bei der Bedeutungsangabe niemals finden würde, die aber trotzdem in einer Sprachgemeinschaft gewusst und konsensuell geteilt werden. Sie zeichnen sich dadurch aus, dass sie „mit einem sprachlichen Ausdruck verbundene Bedeutungsassoziationen [erfassen]“ (Stocker 2005: 72) und somit „mentale Repräsentationen sozial geteilter Zuschreibungen [sind], welche die im engeren Sinn semantische Bedeutung ergänzen (z.B. assoziiert man mit Blondine Eigenschaften wie ‚ist sexy‘, ‚ist dumm‘ u.Ä.)“ (ebd.). 

Wie sehr sich solche Assoziationsstereotype im Sprachgebrauch niederschlagen, dadurch aufrechterhalten werden und die Wahrnehmung der Geschlechter (durchaus normativ) anleiten, sei im Folgenden anhand einiger weniger Beispiele aus den analysierten Pressetexten veranschaulicht.

4 Als positiven Aspekt von Stereotypen nennt Klauer (2020: 24) die Möglichkeit der Entschlüsselung von unklaren Gegebenheiten: „Die stereotypen Wissensstrukturen sind auch dabei nützlich, möglicherweise zweideutige und unklare Geschehnisse und Beobachtungen zu deuten. Beispielsweise kann die Parteizugehörigkeit eines Redners im Bundestag helfen, eine überzogene Aussage als Ironie zu verstehen, wenn sie in eine politische Richtung weist, die der Partei des Redners entgegensteht.“

5 Wir haben z.B. bestimmte positive oder negative Vorstellungen von Ländern, die wir selbst noch nie bereist haben und diese Vorstellungen können, wenn sie negativ sind, dazu führen, dass wir sie nie bereisen werden.

3 Die Frau als Mutter und der Mann als Nicht-Vater: einige Beispiele

In den Pressetexten zeigt sich, dass es (fast) keinen Bereich des sozialen Miteinanders gibt, der nicht geschlechtsstereotyp beeinflusst wäre (vgl. dazu auch Lautenschläger 2017; 2020): Männern und Frauen werden nicht nur bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, sondern auch Vorlieben für bestimmte Farben und Formen oder Gesprächsthemen:

(1) Männer reden über Fußball, Frauen über Familie. Ein altes Klischee, das aber offenbar stimmt. Laut einer Allensbach-Umfrage widmet sich der männliche Teil der deutschen Bevölkerung in Gesprächen vor allem Sport, Autos und Technik, dicht gefolgt von Politik oder Wirtschaft. Frauen hingegen tauschen sich hauptsächlich über Kinder, Frust, Gesundheit oder Modetrends aus. Als ‚typisch männlich‘ wird Direktheit und Nüchternheit angesehen, Frauen halten sich für überwiegend ‚emotional‘.“ (Nürnberger Nachrichten, 24.02.2011)

(2) Arbeiten mit Textilien, mit Nahrungsmitteln, mit Pflanzen, Pelzen, Spiegeln, mit sanften fließenden Farben, kleinen runden Formen, organischen Formen. Das ist typisch weiblich. Keine zackigen, geometrischen Figuren, keine aggressiven Farben. Das ist Männersache. (Die Zeit, 10.05.1985)

Analoges gilt auch für die Zuschreibung komplementärer Kompetenzen. Frauen wird etwa eine höhere Sozialkompetenz attestiert, während männliche Erzieher mit den Kindergartenkindern körperlicher agieren und mehr toben:

(3) „Frauen haben oft einfach eine höhere soziale Kompetenz“, berichtet Claudia Müller, rheinland-pfälzische Polizistin der ersten Stunde und Pressesprecherin im Polizeipräsidium Koblenz, aus ihrer langjährigen Erfahrung. In Sachen Empathie, also wenn es um Einfühlungsvermögen geht und darum, deeskalierend zu agieren, bringen Frauen nach der Einschätzung von Claudia Müller ein höheres Potenzial mit als Männer. (Rhein-Zeitung, 17.11.2012)

(4) „Man sieht es, die Kinder lieben ihn. Und da ist endlich mal ein Mann, mit dem die Jungs so richtig toben und balgen können“, sagt Bettina Maroska. „Das wird man bei uns Erzieherinnen so nicht erleben.“ (Braunschweiger Zeitung, 13.04.2012)

Allerdings werden auch bestimmte Charakterschwächen stereotyp geschlechtsbinär assoziiert: Die in beruflichen Aspekten positiv bewertete männliche Durchsetzungsfähigkeit und Aggressivität, die bei Frauen negativ wahrgenommen wird, wird in anderen Zusammenhängen negativ bewertet und mit Impulsivität und mangelnder Selbstkontrolle assoziiert. So heißt es etwa, dass „Männer eher dazu [neigen], ihre Aggressionen in Gewalt umzuwandeln“ (Nürnberger Zeitung, 21.09.2010) und „von Natur aus eher zu Aggressivität und Impulsivität [neigen], als es Frauen tun“ (Hamburger Morgenpost, 08.04.2011). Wie sehr sich diese Assoziation Mann = (unkontrollierter) Aggressor in der Sprache niederschlägt, sei kontrastiv an zwei Beispielen verdeutlicht. Hier wird jeweils über Exhibitionismus berichtet, wobei sich geschlechtsspezifisch stark differierende Bewertungen finden lassen, die nicht der augenfälligen Form X ist Y folgen, sondern sich subtiler entfalten:

(5) Vor den Augen der Mitreisenden befriedigte sich eine 29 Jahre alte Frau in einem Regionalzug zwischen Bad Kissingen und Würzburg mit einem Vibrator. Andere Reisende fühlten sich davon belästigt und beschwerten sich beim Zugbegleiter. Dieser rief daraufhin die Bundespolizei, wie ein Sprecher bestätigte. Die „frivole Frau“ habe die Anschuldigungen eingeräumt, aber keine Einsicht gezeigt, dass ihr Verhalten anstößig sei, so die Polizei zu dem Fall. Die Frau wurde wegen Erregung öffentlichen Ärgernisses angezeigt. (Nürnberger Zeitung, 15.01. 2011)

(6) Ein Exhibitionist suchte sich ausgerechnet einen Linienbus aus, um seinen Trieben freien Lauf zu lassen. […] Der Mann setzte sich am späten Montagabend laut Polizei in dem Linienbus von Nürnberg nach Erlangen neben drei junge Frauen zwischen 15 und 19 Jahren, entblößte sein Geschlechtsteil und führte sexuelle Handlungen an sich aus. (Nürnberger Zeitung, 17.08.2011)

Obwohl es sich um Texte handelt, die aus derselben Zeitung und aus demselben Jahr stammen, und obwohl es sich in beiden Berichten um Personen handelt, die sexuelle Handlungen in der Öffentlichkeit an sich vorgenommen und dadurch ihre Mitmenschen belästigt haben, wird anhand des unterschiedlich ausfallenden sprachlichen Umgangs erkennbar, dass es sich nicht bloß um die Darstellung von Fakten handelt. So ist es eine frivole Frau und keine Exhibitionistin, die sich anstößig verhalten hat, wobei nicht deutlich wird, ob sie dabei – analog zu (6) – ihr Geschlechtsteil entblößte oder nicht. Die belästigten Reisenden werden nicht weiter charakterisiert, Alter und Geschlecht bleiben unbekannt. In (6) hingegen werden sie detaillierter beschrieben und der Mann wird explizit als Exhibitionist bezeichnet. Neben der Beschreibung, dass er sein Geschlechtsteil entblößte, wird zudem durch den Infinitivsatz „um seinen Trieben freien Lauf zu lassen“ ein Kontrollverlust indiziert, der sich beim weiblichen Pendant nicht findet. Die Partikel ausgerechnet verstärkt zudem die emotionale Bewertung der Ablehnung. 

Generell wäre es zudem undenkbar, einen Exhibitionisten als frivol zu bezeichnen: Männer sind stärker mit Sexualstraftaten assoziiert als Frauen (vgl. Lautenschläger 2018: 179 ff.; Lautenschläger 2017), was eine stärkere (moralische wie sprachliche) Verurteilung derartiger Taten nach sich zieht und verharmlosende Etikettierungen wie frivol auf Basis gesellschaftlichen Wissens wie von selbst verbietet.

Ob derartige Täter-Assoziationen und damit zusammenhängende Attribute (wie rücksichtslos, unkontrolliert, gewaltbereit etc.) sich auf das Absprechen väterlicher Fürsorglichkeit auswirken oder nicht, kann linguistisch nicht mit Sicherheit beantwortet werden. Es lässt sich allerdings feststellen, dass sich in den Pressetexten die Assoziationen Frau = Mutter und Mann ≠ Vater überzeitlich stabil komplementär gegenüberstehen:

(7) Mettler versteht das Paar und besonders die Frau: „Ein Kind haben zu wollen, ist nicht nur ein sehnlicher Wunsch der Frau, sondern ihr ureigenes biologisches Bedürfnis“. Medizinische Ethik heißt für sie, „die unabdingbare Pflicht, Leidenden zu helfen“. (Die Zeit, 27.09.1985)

(8) Rund zwei Drittel der jungen Erwachsenen wünschen sich Kinder, überraschenderweise mehr Männer (70 Prozent) als Frauen (61 Prozent). (Nürnberger Nachrichten, 15.02.2011)

An diesen beiden Beispielen lässt sich, auch wenn zwischen ihnen 26 Jahre liegen, gut nachvollziehen, dass und wie sehr Frau-Sein mit Mutter-Sein assoziiert ist und dabei biologisch-natürlich begründet wird. Da sich Geschlechterstereotype komplementär zueinander verhalten und dadurch die Regel ‚Was weiblich ist, ist nicht männlich – und umgekehrt‘ gilt, wird der Kinderwunsch von Männern als Normabweichung durch das Adverb überraschenderweise gekennzeichnet bzw. wird der weniger stark ausgeprägte Kinderwunsch von Frauen als Überraschung erlebt.

Beispiel (9) ist ein Beleg dafür, wie langanhaltend Rollenbilder und mit ihnen Stereotype sind, was sich auch in (10) manifestiert. Und obwohl hier die traditionellen Rollenbilder bestätigt werden – der Mann ist im Berufsleben, die Frau im Familienleben verankert – ist dieses Beispiel eines der wenigen in den Korpora, das die väterliche Perspektive einbezieht; es handelt sich also um ein randständiges Phänomen. 

(9) Journalismus: Noch immer gibt es in den Medien wenige Frauen in Führungspositionen, obwohl dort viele Frauen arbeiten. Kinder, Küche, Kirche: Den Spruch traut sich zwar niemand mehr öffentlich sagen; am Inhalt allerdings hat sich noch nicht so viel geändert. (Nürnberger Zeitung, 08.03.2012)

(10) Die Vereinbarkeit von Familie und Beruf ist nicht nur für Frauen, sondern auch für Männer ein Problem. Mütter laufen Gefahr, die Verankerung im Berufsleben zu verlieren. Väter laufen Gefahr, die Verankerung in ihrem eigenen Privatleben zu verlieren. Wenn sie erschöpft von der Arbeit kommen, fehlt ihnen häufig die Zeit und die Kraft, um noch in die alltäglichen Abläufe der Familie einzugreifen. (Frankfurter Rundschau, 09.08.1997)

Wie sehr Frauen als Mütter und wie wenig Männer als Väter perspektiviert werden, sei abschließend an diesem Beleg demonstriert:

(11) Er [der Wagen, S.L.] vermisst nur das unten abgerundete Lederlenkrad und die hochwertigeren Kunststoffe des Armaturenbretts des Wolfsburgers. […] Zudem ist die Verarbeitung Skoda-typisch tadellos. Zum Schluss noch ein gutes Argument, um die Frauen der überwiegend männlichen Klientel zu überzeugen: Wetten, dass die lieben Kleinen, sobald sie das sonore Motordröhnen im Innenraum auf der Fahrt vernehmen, mit einem glücklichen Lächeln auf dem Gesicht einschlafen? (Rhein-Zeitung, 19.06.2010) 

4 Fazit

Die Sprache und der Sprachgebrauch beeinflussen die Art und Weise, wie wir unsere Umwelt kategorisieren und perspektivieren. Wenn man sich mit gendergerechter Sprache auseinandersetzt, ist es daher nicht nur wichtig, punktuelle Formen des gendergerechten Schreibens (und Sprechens) im Bereich der Personen- und Berufsbezeichnungen zu reflektieren, sondern ebenso zu bedenken, dass und welche Stereotype den Geschlechtern musterhaft im Sprachgebrauch zugeschrieben werden. Denn durch das Sprechen bzw. Schreiben werden bestimmte Perspektiven (re-)produziert, aufrechterhalten und tradiert, mit denen bestimmte normative und die Komplexität einschränkende Vorstellungen davon einhergehen, wie Männer und Frauen ‚sind‘, was sie ‚können‘, ‚dürfen‘ und ‚wollen‘. Ein bewusster Umgang mit diesen stereotypen Assoziationen, der sich im Sprachgebrauch niederschlägt, kann dabei helfen, Veränderungen zu bewirken: Denn wenn sich in einer Sprachgemeinschaft das Sprechen über die Geschlechter verändert, verändert sich langfristig auch deren Wahrnehmung und kann zu einem gerechteren, mindestens aber bewussteren Umgang im Miteinander beitragen und die qua Stereotyp festgelegten Normen hinterfragen.

Literatur

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Bubenhofer, Noah (2009): Sprachgebrauchsmuster. Korpuslinguistik als Methode der Diskurs- und Kulturanalyse. Berlin/Boston, de Gruyter.

Eckes, Thomas (2008): Geschlechterstereotype: Von Rollen, Identitäten und Vorurteilen. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate (Hrsg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung. Theorie, Methoden, Empirie. 2., erw. und aktual. Aufl. Wiesbaden, Springer, S. 171–182.

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Lautenschläger, Sina (2018): Geschlechtsspezifische Körper- und Rollenbilder. Eine korpuslinguistische Untersuchung. Berlin/Boston, de Gruyter. 

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