Genus – Sex/us – Semantisches Geschlecht – Gender: einige Begriffsklärungen
Christine Ivanov, Gabriele Diewald
Christine Ivanov, Gabriele Diewald. 2021.
https://www.sprache-und-gendern.de/beitraege/genus-sexus-semantisches-geschlecht-gender-einige-begriffsklaerungen (abgerufen am 13.12.2024)
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Ein Diskussionsfeld rund um das Thema geschlechtergerechte Sprache entsteht oft im Zusammenhang mit den Begriffen „Genus“, „Sexus“ und „Gender“. Es existieren unterschiedliche Interpretationen der Bedeutung der Begriffe und oft unklare Vorstellungen über ihre gegenseitige Bezogenheit. Dies liegt auch daran, dass sich hier die begrifflichen Traditionen verschiedener wissenschaftlicher Disziplinen überschneiden. „Genus“ ist ein Terminus aus der Sprachwissenschaft und bezieht sich auf sprachliche Formklassen, „Sexus“ ist ein Begriff aus der Biologie und bezieht sich auf biologische Merkmale von Menschen und anderen Lebewesen, „Gender“ wiederum ist ein Konzept der Sozial- und Kulturwissenschaften und beschreibt soziale Stereotype. Bei der Frage, wie geschlechtergerechte Sprache realisiert werden soll, wie es also am besten gelingen kann, mit sprachlichen Formen in unterschiedlichen Situationen geschlechtergerecht und fair zu kommunizieren, wirken die Faktoren, die mit den genannten Begriffen angesprochen sind, zusammen. Daher ist es sinnvoll, sich zunächst mit der Definition und Abgrenzung der Begriffe zu befassen.
Genus: Genus beschreibt das grammatische Geschlecht, d.h. es handelt sich um eine rein sprachliche Kategorie. Im Deutschen werden drei Genera unterschieden: Maskulinum, Femininum und Neutrum (Hellinger/Hadumod 2003 für einen Überblick zu Genus in anderen Sprachen). Genus ist ein Merkmal von Substantiven (Löffel, mask.; Gabel, fem.; Messer, neutr.), Pronomina (er, sie, es), Artikeln (der, die das) und Adjektiven (goldener, goldene, goldenes), es stellt eine grammatische Kategorie dar, die sich in systematischen formalen Unterscheidungen zwischen Wörter der drei Genusklassen äußert. Diese sind innersprachlich festgelegt und haben an sich keine Bedeutung, die über die Zuordnung zu einer der drei Klassen hinausgeht. So lautet der bestimmte Artikel bei Substantiven, die das Genus Femininum aufweisen, immer die wie in die Tasse, die Rose, die Freiheit, die Schwester, bei Substantiven mit dem Genus Maskulinum hingegen immer der wie in der Becher, der Krokus, der Übermut, der Bruder und bei Substantiven im Genus Neutrum immer das wie in das Glas, das Gänseblümchen, das Priestertum, das Geschwister. Es gibt sprachwissenschaftliche Untersuchungen (Binanzer 2017; Köpcke/Zubin 1996), die (innersprachliche) Motive für die Zuordnung von Substantiven zu bestimmten Genera erforschen und die einige Tendenzen ermitteln konnten. So z.B. lautliche und formale Merkmale (Wortende auf Konsonant oder Vokal, Silbenanzahl, Bedeutung, bestimmte Endungen) sowie Bedeutungsaspekte (Autonamen sind maskulin, Motorradnamen sind feminin, usw.) betreffen. Für den Bereich der Personenbezeichnungen, der beim Thema geschlechtergerechte Sprache von herausragender Bedeutung ist, spielen diese Untergliederungen keine tragende Rolle.
Sex/Sexus: Sexus bezeichnet das biologische, körperliche Geschlecht, welches aufgrund äußerer und/oder innerer physischer Merkmale einer Person zugeschrieben wird. Meist steht es von Geburt an fest. Prototypisch ist es binär in weiblich und männlich differenziert. Dies trifft jedoch nicht immer zu. Im Falle von Intersexualität bspw. ist die Körperlichkeit nicht eindeutig als weiblich oder männlich definierbar oder aber Personen identifizieren sich nicht mit ihrem körperlichen Geschlecht, d.h. ihre Geschlechtsidentität (Gender) stimmt nicht mit dem körperlichen Geschlecht überein.1 Bußmann (2005, 487) schlägt vor, im Kontext der Debatte um geschlechtergerechte Sprache statt von Sex/Sexus vom referentiellen Geschlecht zu sprechen. In jedem Fall geht es um ein außersprachliches Merkmal, die einer Person zukommt. Dieses außersprachliche Merkmal ist unabhängig von der Sprache und auch von der konkreten sprachlichen Realisierung. Wenn jemand eine Beobachtung mit einem Satz wie Das Kind nutzt den Radweg wiedergibt, so wird mit der Personenbezeichnung das Kind (die im Genus Neutrum steht) keinerlei Aussage über das referentielle Geschlecht, den Sexus, der beschriebenen Person gemacht, obwohl eine – wie auch immer ausgeprägte – biologische Ausprägung von geschlechtlichen Merkmalen mit Sicherheit anzunehmen ist.
Semantisches Geschlecht: Mit dem semantischen Geschlecht wird die Bedeutungsebene der Sprache, der Wortinhalt, bezeichnet. Bei vielen Personenbezeichnungen sind die Merkmale ‚weiblich‘ und ‚männlich‘, durch die im deutschen das semantische Geschlecht realisiert wird, teil der Wortbedeutung. So enthält das Substantiv Schwester das Merkmal ‚weiblich‘ (neben dem Merkmal ‚symmetrische Verwandtschaft ersten Grades‘), das Substantiv Bruder hingegen das Merkmal ‚männlich‘ und ebenfalls das Merkmal symmetrische Verwandtschaft ersten Grades‘. Dies ist bei vielen Verwandtschaftsbezeichnungen der Fall. Wichtig ist hier festzuhalten, dass die semantischen Merkmale ‚weiblich‘ und ‚männlich‘ bei diesen Substantiven nicht vom Genus abhängig sind, sondern einen Bestandteil der Wortbedeutung ausmachen. Dies erkennt man leicht durch einen Vergleich mit dem Englischen, das ja kein grammatisches Genus hat, wohl aber die semantische Unterscheidung von ‚männlich‘ und ‚weiblich‘. Im englischen sister ist ebenso wie im deutschen Schwester das semantische Merkmal ‚weiblich‘ enthalten und das englische brother weist wie das deutsche Wort Bruder das semantische Merkmal ‚männlich‘ auf, ungeachtet der Tatsache, dass der bestimmte Artikel in beiden Fällen gleichermaßen the lautet: the sister / the brother. Auch im Deutschen ist das Merkmal ‚weiblich‘ bei Schwester nicht vom femininen Genus des Wortes abhängig; analoges gilt bei Bruder, dessen grammatisches Genus das Maskulinum ist. Allerdings ist es im Deutschen so, dass bei Personenbezeichnungen die semantischen Merkmale (Bestandteile der Wortbedeutung) mit der grammatischen Genusklasse typischerweise korrelieren: der Vater (semantisches Merkmal ‚männlich‘, Genus Maskulinum) oder die Mutter (semantisches Merkmal ‚weiblich‘, Genus Femininum).Von Ausnahmen hiervon, wie z.B. das Weib, wird hier abgesehen. Des Weiteren existieren im Deutschen eine Reihe von geschlechtsneutralen oder auch geschlechtsindifferenten Substantiven. Bei ihnen ist das semantische Geschlecht im Wortinhalt nicht spezifiziert: der Mensch, die Person, das Kind. Sie können auf alle Personen beliebiger Geschlechtsausprägung referieren. Sie haben kein semantisches Merkmal für Geschlecht (‚männlich‘, ‚weiblich‘). Sie haben jedoch, wie die drei Beispiele zeigen, ein im Substantiv festgelegtes Genus, das beliebig ist: Genus Maskulinum bei Mensch, Genus Femininum bei Person und Genus Neutrum bei Kind.
Gender: Gender verweist auf das soziale, gesellschaftlich konstruierte Geschlecht, welches sich in Stereotypen und Rollenerwartungen, wie Frauen und Männer zu sein, zu denken, zu sprechen haben, ausdrückt, die Geschlechtsidentität. So gelten bestimmte Eigenschaften, bestimmte Kleidungsstücke und Arten der Selbstdarstellung, bestimmte Berufe, bestimmte Fähigkeiten und Verhaltensweisen usw. auch heute noch vielfach als eher männlich oder eher weiblich. Das Verhältnis von Sex und Gender ist dabei komplex. Tendenziell ist zu beobachten, dass biologische Merkmale und Unterschied durch Genderstereotype herausgestrichen und maximiert werden und dass eine oft implizite Wertung bzw. Hierarchisierung der Geschlechter zugrunde liegt: Die Tonlage oder Lautstärke der Stimme als physische Gegebenheit z.B. führt erst durch die gesellschaftliche Bewertung zu Vorteilen respektive Benachteiligungen z.B. im Berufsleben. Seit den 1980er-Jahren wird Geschlecht als Konstrukt betrachtet, was nicht bedeutet, dass es nicht existiert, jedoch, dass das, was wir unter Geschlecht verstehen, eng mit gesellschaftlichen Werten und Erwartungen zusammenhängt (Spieß/Günther/Hüpper 2012). Um dieses Verhältnis zu beleuchten wurde in den Sozialwissenschaften die Differenzierung von Sex (dt. Sexus, s.o.) und Gender (gesellschaftlich konstruiertes Geschlecht, soziales Geschlecht) im Konzept des Doing Gender vorgeschlagen (Gildemeister 2010; West/Zimmerman 1987). Doing Gender beschreibt, dass Gender wiederkehrend in alltäglichen Handlungen hergestellt wird, z.B. durch Kleidung, Mimik, Gestik und auch im Sprechen. Sprache wird als ein Instrument betrachtet, welches diese Konstruktion (mit)herstellt und aufrechterhält. Mit Undoing Gender ist die bewusste Auflösung der stereotypen Zuordnungen von bestimmten Merkmalen an ein bestimmtes biologisches Geschlecht gemeint.
Festzuhalten ist, dass es sich bei Genus um eine innersprachliche Kategorie zur sprachlichen Klassifikation verschiedener Wortarten handelt. Das semantische Geschlecht bezeichnet den Inhalt der sprachlichen Zeichen. Die beiden innersprachlichen Ebenen – das grammatische Geschlecht bzw. Genus und das semantische Geschlecht bzw. der Wortinhalt – sind eigenständige Faktoren in der deutschen Sprache und getrennt zu analysierende Ebenen. Sie gehen jedoch bei Personenbezeichnungen typische Korrelationen ein. Sexus, das referentielle Geschlecht, und Gender hingegen stellen zunächst außersprachliche Kategorien dar. Sexus als das körperliche, biologische (zugewiesene) Geschlecht steht weder zu Gender noch zu Genus in einer kausalen Beziehung. Da jedoch die außersprachlichen Ebenen (auch) sprachlich realisiert und hervorgebracht werden, bestehen enge Wechselwirkungen; so korreliert das Genus häufig mit dem Geschlecht der bezeichneten Person.
1 Die prototypische Unterscheidung in zwei Geschlechter beruht demnach nicht ausschließlich auf biologischen Tatsachen, sondern ist kulturell und gesellschaftlich geprägt. Dies zeigen z.B. historische Arbeiten zu Eingeschlechtermodellen, die in der Antike vertreten wurden (Laqueur/Bußmann 1992; Voß 2011).
Literatur:
Binanzer, Anja (2017): Genus - Kongruenz und Klassifikation: Evidenzen aus dem Zweitspracherwerb des Deutschen. DaZ-Forschung. Berlin ; Boston: De Gruyter.
Bußmann, Hadumod (2005): Sprachwissenschaft. Haben Sprachen ein Geschlecht? - Genus/gender in der Sprachwissenschaft. In: Bußmann, Hadumod/Hof, Renate (Hg.): Genus. Stuttgart: Kröner, 482–518.
Gildemeister, Regine (2010): Doing Gender: Soziale Praktiken der Geschlechterunterscheidung. In: Becker, Ruth/Kortendiek, Beate/Budrich, Barbara (Hg.): Handbuch Frauen- und Geschlechterforschung, Geschlecht & Gesellschaft. Wiesbaden: VS Verl. für Sozialwiss, 137–145.
Hellinger, Marlis/Hadumod, Bußmann (2003): Gender Across Languages: The linguistic representation of women and men. Amsterdam; Philadelphia: John Benjamins Publishing Company.
Horvath, Lisa K./Sczesny, Sabine (2015): Reduction women’s lack of fit with leadership positions? Effects of the wording of job advertisments. In: European Journal of Work and Organizational Psychology.
Köpcke, Klaus-Michael/Zubin, David (1996): Prinzipien der Genuszuweisung im Deutschen. 473–491.
Laqueur, Thomas Walter/Bußmann, H. Jochen (1992): Auf den Leib geschrieben: die Inszenierung der Geschlechter von der Antike bis Freud. Frankfurt/Main: Campus-Verl.
Spieß, Constanze/Günther, Susanne/Hüpper, Dagmar (2012): Perspektiven der Genderlinguistik - eine Einfühung in den Sammelband. In: Günthner, Susanne/Hüpper, Dagmar/Spiess, Constanze (Hg.): Genderlinguistik, Linguistik - Impulse & Tendenzen. Berlin: de Gruyter, 1–27.
Voß, Heinz-Jürgen (2011): Making sex revisited: Dekonstruktion des Geschlechts aus biologisch-medizinischer Perspektive. 3., unveränderte Auflage. KörperKulturen. Bielefeld: transcript.
West, Candace/Zimmerman, Don H. (1987): Doing Gender. In: Gender and Society 1 (2), 125–151.